Deutschland: Fachkräftemarkt und Fachkräftemangel
Subjektive Wahrnehmung und Statistik
Am Begriff „Fachkräftemangel“ kommt man nicht mehr vorbei. Öffentliche Debatte, beruflich oder privat: Schnell kommt das Gespräch auf freie Stellen, auf zu viel Arbeit für zu wenig Mitarbeiter:innen. Die subjektive Wahrnehmung im Alltag stimmt damit überein – Restaurant oder Kfz-Werkstatt, Handwerker oder Frisör: Oft ist es schwierig, einen Wunsch- oder überhaupt einen Termin zu bekommen.
„Fachkräftemangel“: Was ist das?
Fachkräftemangel liegt vor, wenn in einer Volkswirtschaft eine hohe Zahl offener Stellen deutlich wenigerverfügbaren Arbeitnehmer:innen gegenübersteht. Besonders, aber nicht nur bei qualifizierten Fachkräften ist dies in Deutschland bereits seit einigen Jahren in verschiedenen Branchen deutlich spürbar.
Die Zahlen: Hunderttausende fehlen – vor allem in sozialen Berufen
Auch wenn offizielle Stellen wie die Bundesagentur für Arbeit es lieber „vereinzelte Engpässe“ nennen: Die Zahlen bestätigen die subjektive Wahrnehmung. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) meldete von Juni 2021 bis Juli 2022 deutschlandweit durchschnittlich über eine halbe Million unbesetzte Stellen. Das Forschungsinstitut Prognos (Basel) prognostiziert für Deutschland bis 2030 drei Millionen fehlende Fachkräfte – und dass die Entwicklung danach so weitergehen wird.
Besonders groß sind die Lücken laut IW im sozialen Bereich, betreffen jedoch auch andere Branchen:
• Sozialarbeit
• Sozialpädagogik
• Erziehung
• Gesundheit: Altenpflege, Pflege, Medizin
• Bauelektrik, Sanitär, Heizung und Klima
• Technische/MINT-Berufe (Mathematik-, Ingenieur-, Naturwissenschaften und Technik)
Die Untersuchungen des IW zeigen auch, dass es regional sehr unterschiedlich stark an Fachkräften mangelt: im Süden mehr als etwa in der Hauptstadt, auf dem Land mehr als in der Stadt.
Warum mangelt es in Deutschland an Fachkräften?
Seit 2019 – kurz vor der Corona-Pandemie – hat sich der Fachkräftemarkt in Deutschland also rapide gewandelt. Es wird immer schwieriger für Unternehmen, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden und zu halten. Warum?
Immer mit von der Partie: der demografische Wandel
Die Hauptursache ist bekannt aus vielen anderen Zusammenhängen – und wird leider weiter an Bedeutung gewinnen: der demografische Wandel, Stichwort Babyboomer. Die erfahrenen Arbeitnehmer:innen dieser geburtenstarken Jahrgänge (Ende 1950er- bis 1960er-Jahre) gehen langsam in den Ruhestand.
Derzeit sind Ruheständler:innen noch in der Bevölkerungs-Minderheit. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg (IAB) erwartet jedoch, dass sie Mitte/Ende der 2030er-Jahre die Mehrheit sein werden. 2030 werden in Deutschland voraussichtlich 45,9 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter sein, 2060 nur noch 35,7 Millionen.
Die Lücke wird auch nicht dadurch geschlossen, dass mehr Frauen arbeiten und viele Menschen länger erwerbstätig bleiben. Selbst die durch technischen Fortschritt steigende Produktivität reicht offensichtlich nicht aus.
Steigender Bedarf
Der Stellenmarkt hingegen schrumpft nicht. So führen demografischer Wandel und steigende Lebenserwartung etwa zu erhöhtem Bedarf in Medizin und Pflege – einem Bereich, in dem es jetzt schon knapp ist.
Beschleuniger Corona
Die Corona-Pandemie hat die Lage auf dem Fachkräftemarkt zusätzlich verschärft. Wie vieles andere hat sie auch die sich schon vorher abzeichnende Entwicklung beschleunigt.
Lockdowns, etwa in Gastronomie und Einzelhandel, führten zu weniger Umsatz und Entlassungen. Währenddessen boomten etwa IT und Online-Handel. Viele Menschen orientierten sich neu und kehrten späternicht an ihre alten Arbeitsplätze zurück.
Sich wandelnder Bedarf: Digitalisierung
Die fortschreitende Digitalisierung erfordert umfassende neue Kompetenzen. Ständig entwickeln sich neue Felder, so wie derzeit der KI-Bereich. Fachkräfte müssen aufgrund der rasanten Entwicklung mehr und schneller dazulernen.
Währenddessen verlieren viele Berufe ihre Bedeutung, etwa in Sicherheit, Überwachung und Logistik, aber auch in der Sachbearbeitung: überall dort, wo Roboter, IT und KI schneller und präziser, zuverlässiger und günstiger sind.
Handeln: dringend notwendig
Setzt sich die alarmierende Entwicklung ungebremst fort, droht dem Wirtschaftsstandort Deutschland großes Ungemach. Die Wertschöpfung könnte zunehmend ins Ausland abfließen, das Wirtschaftswachstum einbrechen.
Auch drohen durch den demografischen Wandel zusammen mit seinen Auswirkungen auf den Arbeitsmarktvielfältige Verwerfungen, vor allem in den Sozialsystemen. Immer weniger Arbeitnehmer:innen müssen die steigende Zahl von Ruheständler:innen ausgleichen.
Es ist also dringend notwendig, dass Wirtschaft und Politik gleichermaßen gegensteuern. Mögliche Ansätze bieten sich in:
• Bildung
• Personalwesen der Unternehmen
• Fachkräftezuwanderung
• Arbeitnehmerüberlassung
• Arbeitsmodellen für Familien und ältere Arbeitnehmer
Bildung
Vom Kindergarten bis zum Ende des Berufslebens: Die Menschen müssen besser auf eine digitalisierte Arbeitswelt vorbereitet werden. Und lernen, lebenslang zu lernen. Denn bei immer schnelleren Umwälzungen trägt eine abgeschlossene Ausbildung längst nur noch einen Bruchteil eines Berufslebens. Auch Unternehmen müssen massiv in die Qualifizierung ihres Personals investieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben – und Arbeitnehmer:innen einen Mehrwert zu bieten.
Personalwesen der Unternehmen
Konnten sie vor wenigen Jahren noch aus einem großen Angebot auswählen, müssen Unternehmen nun ihre Strategien zur Mitarbeitergewinnung und -bindung anpassen. Viele arbeiten verstärkt mit Bildungseinrichtungen zusammen, um Talente frühzeitig zu finden und zu fördern.
Eine immer entscheidendere Rolle spielt auch der Ruf als Arbeitgeber. Deswegen investieren viele erheblichen Aufwand in ein entsprechendes Image.
Zuwanderung
Derzeit schwächt sich die Fachkräftelücke etwas ab – bedingt durch die starke Zuwanderung, vor allem aus der Ukraine: ein deutliches Zeichen für einen möglichen Lösungsansatz.
Deutschland hat jüngst seine Bemühungen verstärkt, ausländische Fachkräfte zu rekrutieren. Doch noch immer sind die bürokratischen Hürden hoch, z. B. bei der Anerkennung von Abschlüssen. Auch hat der Ruf Deutschlands als Einwanderungsland in den letzten Jahren vor allem bei qualifizierten ausländischen Fachkräften eher gelitten.
Arbeitnehmerüberlassung
Zeitarbeit kann keine Fachkräfte „herbeizaubern“. Doch sie kann den Einsatz dieser wertvollen Ressource effizienter und flexibler gestalten. Mithilfe von Personaldienstleistern können Unternehmen Vakanzen kurzfristig besetzen – und Leerläufe vermeiden sowie alle daraus resultierenden Folgen von Auftragsrückstand bis Handlungsunfähigkeit. Anstatt dass in einer Festanstellung nur sporadisch (oder gar nicht) die volle Leistung abgerufen wird, können Fachkräfte flexibel immer dort eingesetzt werden, wo sie ihr Potenzial zu 100 % ausschöpfen können – und genau so lange, wie dies der Fall ist. Sich optimal einbringen zu können, motiviert die Fachkräfte auch selbst – und steigert so deren Produktivität.
Dabei verringert sich der zeitliche, personelle und finanzielle Aufwand für Einstellungen. So wird auch hier die Leistung von Fachkräften eingespart bzw. effizienter genutzt. Und bei Übergang in eine Festanstellung wird auch der Rekrutierungsprozess selbst optimiert.
Flexiblere Arbeitsmodelle für Familien und ältere Arbeitnehmer
Wenn z. B. Familien bzw. meist immer noch Frauen in der Familienphase, Teilzeitkräfte und ältere Menschenkürzertreten, liegt dies oft an strukturellen Bedingungen. Die meisten Unternehmen sind nicht familienfreundlich aufgestellt, Frauen verdienen weniger (Gender-Pay-Gap), Teilzeit ruiniert die Karriere, die Bedürfnisse älterer Menschen stehen zu selten im Fokus.
Um diese Arbeitsmarktressourcen zu erschließen, bedarf es z. B.
• ausreichender Kinderbetreuungsplätze, in Betrieben und überhaupt,
• flexiblerer Arbeitsorganisation, –zeiten und -orte,
• schnellen Schließens des Gender-Pay-Gap,
• familien- und altersgerechter Teilzeitmodelle,
• attraktiver Anreize für Teilzeitarbeitende, mehr zu arbeiten.
Fazit: eine große Herausforderung für alle Beteiligten
Der Fachkräftemangel ist nicht nur für Unternehmen eine große Herausforderung. Die gesamte Gesellschaft spürt die Folgen bereits. Wertschöpfung, Wirtschafts- und Innovationskraft drohen verloren zu gehen. Es gilt also schnell und gezielt gegenzusteuern, denn die meisten Maßnahmen wirken erst mittel- oder langfristig – und keine kann das Problem allein lösen.
Mögliche politische Lösungen sind bessere, vor allem digital orientierte Bildung, Vorantreiben der Digitalisierung, Anreize und Entbürokratisierung für ausländische Fachkräfte und bessere Rahmenbedingungen für flexiblere Arbeitsmodelle. Unternehmen sind aufgerufen, ihr Personal stärker zu binden, kontinuierlich zu qualifizieren und selbst auszubilden. Zudem muss die Produktivität weiter gesteigert werden, um den Mangel auszugleichen.
Und schließlich kann auch die Zeitarbeitsbranche Unternehmen helfen, Personalengpässe und damit wirtschaftliche Schwierigkeiten zu vermeiden. Sie hilft dabei, Stellen passgenau dauerhaft zu besetzen. Vor allem jedoch können Personaldienstleister Fachkräfte jeder Qualifikation flexibel dort und dann einsetzen, wo und wenn sie am meisten bewirken: gezielter, passgenauer und effizienter. So kann die wertvolle Ressource „Fachkraft“ ihr Potenzial optimal entfalten – es zu verschwenden, kann sich der Wirtschaftsstandort Deutschland schlicht nicht mehr leisten.
Autor: Ludwig Herrmann